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Als ich 2012 nach 27 Praxis-Jahren als Kassenarzt aufhörte, war ich 61 Jahre alt und körperlich und geistig am Ende. Dabei war ich nicht einmal Einzelkämpfer, wie so viele meiner Hausarzt-Kollegen, sondern hatte eine Gemeinschaftspraxis zu zweit.
In den letzten mindestens 10 Jahren habe ich so manche Kur für Patienten verschrieben, darunter auch jede Menge Psychosomatik-Kuren. Beim Ausfüllen der Anträge habe ich oft gedacht, dass ich diese Kur mindestens genauso nötig hätte wie der Patient vor mir.
Am meisten geschafft hat mich das immer volle Wartezimmer mit Patienten, die trotz eines Termins lange warten mussten.
Wir hatten alle möglichen Formen der Organisation ausprobiert: Termine im 15-Minuten-Takt mit Lücken oder gar keine Termine. Telefonate dazwischen oder als Block am Anfang oder am Ende der Sprechstunde. Nichts hat wirklich funktioniert. An manchen Tagen, besonders zu Stoßzeiten während Erkältungswellen, hatte ich am späten Vormittag bereits 20 abgearbeitete Patientenakten gestapelt, war schon ziemlich platt und hatte trotzdem dann noch die Patienten, die sich aufgestaut hatten, zu verarbeiten.
Völlig aus dem Ruder lief das Ganze, wenn es während der Sprechstunde einen Notfall gab, der einen sofortigen Hausbesuch aus der Sprechstunde heraus erforderte. Das waren die Momente, bei denen ich dann den Wunsch verspürte, das Fenster zu öffnen und einfach abzuhauen.
Mittags war ich fix und fertig und hatte trotzdem das permanent ungute Gefühl, nicht allen gerecht worden zu sein bzw. etwas Wichtiges vergessen zu haben. Dann kamen noch einige Telefonate dazu und das Durchsehen der Laborwerte sowie der eingegangenen Facharzt-Befunde, was natürlich auch noch konsequent abgearbeitet werden musste, meistens mit mehreren Telefonaten.
Dann kurz Mittagessen und ab auf Hausbesuchstour, darunter auch Patienten, die mehr als 20 km von der Praxis entfernt wohnten. In Spitzenzeiten hatte ich wöchentlich 15-20 Patienten zu besuchen - heutzutage unvorstellbar. Da kam es dann ab und an mal vor, dass mir bei einer Oma, die mir zum wiederholten Male erzählte, wie schlecht sie von ihrer Tochter behandelt werde, nach dem obligatorischen Blutdruckmessen in der überhitzten Stube kurz die Augen zufielen. Ich schreckte hoch, wenn dann der Satz fiel: „Na, Herr Doktor, heute sind Sie aber ganz schön müde!“
Dabei liebte ich diese Hausbesuche, auch weil ich wenigstens im Auto mal kurz mit meinen Gedanken allein war.
Anschließend dann noch 2-3 Stunden Abendsprechstunde, in die ich mir gern besonders schwierige und zeitaufwendige Patienten einbestellte.
Es ist ja nicht so, dass es sich bei den Problemen, mit denen die Patienten in eine Hausarztpraxis kommen, immer nur um Peanuts handelt. Oft sind es schwere Schicksale, die man begleitet, nicht selten geht es um Leben und Tod, und das im Minutentakt-unmöglich.
Ich habe mich oft gefragt, wie die Kollegen, die allein eine Praxis haben, das schaffen. Viele sind sicher besser strukturiert als ich. Ich habe es nie gelernt, Fallen zu vermeiden. So passierte es mir immer wieder, dass ich bereits einen Patienten verabschiedet hatte und mir dann die Frage herausrutschte, wie es denn seiner Tochter, seinem Sohn oder sonst einem Angehörigen, den ich kannte, gehe. Und dann kam die Antwort: „Wissen Sie das denn noch nicht, der/die hatte letzte Woche einen schweren Unfall und liegt auf der Intensivstation!“ Ich hätte mir auf die Zunge beißen können, in solch einer Situation. Was sollte ich sagen? „Ach so, das tut mir leid; auf Wiedersehen?“
Also ein kurzer Blick durch die geöffnete Tür zum vollen Wartezimmer mit den hufescharrenden Patienten, dann Tür wieder zu und mindestens noch einmal 15 Minuten Zuhören. Manchmal sogar eine halbe Stunde.
Hinzu kam bei mir noch eine Besonderheit: Bei fast jeder Beschwerde war ich versucht, ein homöopathisches Arzneimittel zu finden. Dazu braucht es neben etwas Erfahrung vor allem eines: Zeit. In dieser besonderen Art von Spagat war ich ständig: Schulmedizin plus Homöopathie.
Wie soll das auf Dauer gehen? In 5 Stunden Vormittagssprechstunde 30, manchmal 40 Patienten? Das sind 10- 7,5 Minuten, inkl. Aufrufen, ins Sprechzimmer begleiten und anschließend zurück.
Ich habe einmal eine Untersuchung gelesen, bei der die Zeit gestoppt wurde, bis der Arzt nach der üblichen Eingangsfrage: „Was kann ich für Sie tun?“, den Patienten das erste Mal unterbricht. Es sind satte 16 Sekunden. Ich halte diese Zahl für durchaus realistisch.
Gerade in einer Hausarztpraxis ist ein gutes Arztpatientenverhältnis von großer Bedeutung. Da haben es viele Fachärzte einfacher. Sie spulen ihr vorher feststehendes Diagnostikprogramm ab und wenn der Patient dann nach dem Ergebnis fragt, kommt die Antwort: „Das besprechen Sie mal mit Ihrem Hausarzt!“
Ich habe als Kassenarzt teilweise Familien über 3 Generationen begleitet (eine sogar über 4: Großeltern, Tochter, Enkeltochter, Urenkeltochter). Da läuft es in der Sprechstunde nie nach Schema F ab, jedenfalls nicht bei mir. Für mich war irgendwann klar, dass es in dieser 5-Minuten-Medizin-Falle nur 2 Möglichkeiten für den Arzt gibt: Entweder ein total dickes Fell, also Richtung Zynismus, oder den „Burnout“. Beides für alle Beteiligten nicht schön.
Aber, und nun kommt der Ausweg:
In einer solchen Situation, wenn vor mir ein Patient sitzt, und ich mich eigentlich fragen sollte, wie ich ihm helfen kann, drängt sich unbewusst eine andere Frage in den Vordergrund. Nämlich die: „Wie werde ich ihn schnell wieder los?“ Und jetzt kommt der Trick: nicht lange reden, sondern den Rezeptblock gezückt und ein paar Pillen verschrieben. Wenn ich die Aktion noch geschickt verkaufe, etwa mit den Worten: „Ich habe hier etwas richtig Gutes für Sie, damit geht es Ihnen bestimmt schnell besser. Und falls doch nicht, kommen Sie in 2 Wochen wieder!“
Und schon bin ich ihn los.
So hat sich langsam und schleichend ein Zustand im Arztpatientenverhältnis eingeschlichen, der für beide Seiten ungesund ist. Die Entwicklung zu dieser 5-Minuten-Medizin ist nicht zufällig, sondern gewollt. Die Pharmaindustrie hat sowohl den Ärzten als auch den Patienten die Zeit gestohlen.
Ich habe als Hausarzt immer versucht, den Patienten als Ganzes inmitten seines sozialen Umfeldes zu begreifen und zu begleiten, ohne Bevormundung. Von vielen wusste ich Dinge, die nicht einmal ihre nächsten Angehörigen kannten. Für so ein Verhältnis braucht es Vertrauen. Und dafür braucht es Zeit. Aber die ist nicht mehr da. Dafür gibt es jetzt jede Menge „Mother´s little Helper“.