Schatten 1

Mein schlimmstes Erlebnis hatte ich ganz am Anfang meiner beruflichen Tätigkeit als noch relativ unerfahrener Assistenzarzt auf der Inneren Abteilung des ehemaligen Kreiskrankenhauses in Dannenberg, meine erste Stelle in der Ausbildung.
Ich war vielleicht ein halbes Jahr im Dienst. Kurz vor Ende des regulären Tagesdienstes am Nachmittag kam ein Patient mit Bauchschmerzen, ca.70 Jahre alt. Ich untersuchte ihn und nahm Blut für das Labor ab. Wir fanden erhöhte Werte der Bauchspeicheldrüse. Ich vermutete eine akute Entzündung, rief den zuständigen Oberarzt an wegen einer Ultraschalluntersuchung. Er fand das nicht erforderlich, weil zu Beginn einer Bauchspeicheldrüsenentzündung eine Ultraschalluntersuchung keine großen diagnostischen Erkenntnisse bringt. Er schlug vor, zur Entlastung eine Magensonde zu legen, um so das Dünndarmsekret abfließen zu lassen und damit die Bauchspeicheldrüse zu entlasten.
Also ging ich zum Patienten und erklärte ihm, was ich vorhatte. Er erklärte mir, dass er das nicht gut fände, weil er einen ganz starken Würgereiz habe. Ich setzte mich aber durch und begann, die Sonde durch die Nase zu schieben. Er begann sofort ganz heftig zu würgen, bäumte sich auf und verdrehte die Augen – Herzstillstand. Mithilfe von sofort herbeigerufenen Schwestern begannen wir mit der Reanimation und schoben ihn gleichzeitig auf die Intensivstation. Trotz fortgesetzten Reanimationsanstrengungen war ihm nicht mehr zu helfen.
Ich war unter Schock. Da ich Nachtdienst hatte, musste ich allein weiterarbeiten, wie in Trance. Das Schlimmste war der Anruf der Angehörigen. Was sollte ich sagen? Ich hatte ja keine Ahnung, was passiert war. Ehefrau und Tochter waren erstaunlich gefasst, im Gegensatz zu mir. Offensichtlich nahmen sie meinen Zustand wahr und hatten erstaunlicherweise nichts dagegen, als ich ankündigte, dass ich gern eine Obduktion zur Klärung der Todesursache vornehmen wolle.
In der Abteilungs-Morgenbesprechung erklärte ich, was passiert war und was ich vorhatte. Die Resonanz war eher ablehnend. Der Tenor war, dass so etwas passieren könne und eine Obduktion nur Gerede bringe.
Für mich aber stand alles auf dem Spiel, denn ich war so geschockt, dass ich entschlossen war, nicht mehr weiter als Arzt zu arbeiten, wenn ich mit dieser Schuld weiterleben müsste.
Es gab nur eine Möglichkeit: Ich musste mich selbst anzeigen, wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung. Somit war es Sache der Staatsanwaltschaft, die dann auch eine Obduktion anordnete.
Dabei stellte sich heraus, dass der Patient an einem geplatzten Aortenaneurysma (Ausbuchtung der Hauptschlagader) verblutet war. Wenn das Aneurysma groß genug ist, gibt es keine Rettung.
Mit einer Ultraschalluntersuchung hätte man dieses Aneurysma entdecken können. Dennoch wurde ich vom Tatvorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen, weil es als nicht vorhersehbares Ereignis gedeutet wurde. Dennoch fühlte ich mich schuldig, weil ich gegen den Willen des Patienten gehandelt hatte.
Ich habe mir damals fest vorgenommen, nie wieder gegen den Willen eines Patienten etwas zu tun. Ich habe mit der Zeit immer mehr auf mein Bauchgefühl bzw. meine innere Stimme gehört und bin damit ganz gut gefahren. So etwas ist mir später zum Glück nie wieder passiert.
Trotzdem werde ich diese schlimme Geschichte niemals vergessen können. Ein Rest Schuld bleibt für immer.

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