Schatten 2

Ein weiteres für mich sehr belastendes Erlebnis hatte ich in der Praxis so um die Jahrtausendwende.

Der Patient, ca. 70 Jahre alt, war schon lange bei mir wegen seines Asthmas in Behandlung. Ich hatte ihm auch einmal schon in einem Rechtsstreit aus der Patsche geholfen, sodass wir ein fast freundschaftliches Verhältnis hatten. Auch hatte ich viele Jahre seine MS-kranke Ehefrau begleitet.

Eines Vormittags stand er an der Anmeldung und sprach mich von der Seite an, als ich aus dem Behandlungszimmer kam und bat um ein Rezept für ein Schmerzmittel gegen Kopfschmerzen. Das Wartezimmer war wie immer voll und wie immer stand ich unter Strom.

Also unterschrieb ich schnell ein Blankorezept und sagte der Arzthelferin, sie möge bitte „Novalgin“ ausdrucken.

Das Verhängnis nahm seinen Lauf, denn auf dem Rezept stand „Novaminsulfon“, weil unsere Software ein preisgünstigeres Generikum (Nachahmerpräparat mit gleichem Wirkstoff) vorgeschlagen hatte.

Das Problem: Der Patient hatte eine schwere Allergie gegen das Mittel. Ich wusste das, hatte aber in der Eile nicht daran gedacht. Der Patient wusste das auch, aber da es sich um „Novaminsulfon“ und nicht um „Novalgin" handelte, schöpfte er keinen Verdacht. „Wenn Waltke das aufschreibt, wird das schon in Ordnung sein!“

War es aber nicht. Eine Stunde später rief die Schwiegertochter an und erzählte ganz aufgeregt, mein Patient habe einen schweren Asthmaanfall. Sofort fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich bestellte den Rettungswagen und wollte losfahren zum 10 km entfernten Wohnort. Als ich schon in der Tür war, kam ein 2. Anruf: Es gehe ihm so schlecht, der Rettungswagen käme zu spät. Also orderte ich den Rettungshubschrauber aus Uelzen.

Als ich ankam, war der Hubschrauber schon da, der Patient reanimiert und noch am Leben und bei Bewusstsein. Der Rettungswagen traf auch ein und man entschied sich, ihn mit diesem nach Dannenberg auf die Intensivstation zu bringen, weil eine eventuelle erneute Reanimation im Hubschrauber nicht möglich war.

Das war auch gut so, denn mitten auf der Strecke, in der „Lucie“, einem großen Waldgebiet, kam es zu einem erneuten Herzstillstand und er musste nochmals reanimiert werden.

Ich war inzwischen kurz in die Praxis zurückgefahren, um das Nötigste zu erledigen. Dann fuhr ich voller Unruhe in die Klinik. Dort lag er auf der Intensivstation, war wach und grinste mich komisch an.

Nachdem er entlassen war, kam er zu mir in die Sprechstunde. Das Merkwürdige war, dass er mir nicht böse war. „Das kann doch jedem passieren. Du hattest ja auch so einen Stress und ich hätte ja auch aufpassen können!“

Er erzählte noch zwei merkwürdige und gleichzeitig wichtige Dinge:

1. Als er seinen 2. Herzstillstand mitten im Wald hatte, hatten die Sanitäter die Wagentür geöffnet. Er hörte Vogelgezwitscher und fühlte sich unglaublich glücklich. Immer wieder hatte er versucht, sich bemerkbar zu machen und die Sanitäter davon abzuhalten, an ihm herumzuhantieren und auf ihm herumzudrücken. Sein Fazit: „Das Ganze hatte auch etwas Gutes. Ich habe nun keine Angst mehr vor dem Tod!“

Das 2. ist eher witzig. Als er auf der Intensivstation lag und mich sah, habe er gedacht, er sei im Himmel. „Schön, dass der Waltke auch schon da ist. Dann kann ja nichts mehr schiefgehen!“

Einige Tage später erzählte ich die Geschichte einem befreundeten Anwalt. Er riet mir, meine Haftpflichtversicherung einzuschalten, da es sich hier doch um einen Schaden handelte, für den sie aufkommen müsse. Mein Verhalten sei fahrlässig, aber nicht grob fahrlässig oder sogar vorsätzlich. Da müssten sie zahlen. Das taten sie auch. Mein Patient freute sich über 3.000 €.

Übrigens: das einzige Mal, dass ich die Versicherung in Anspruch genommen habe. Über die vielen Jahre haben sie dann auch noch gut an mir verdient.

Der Patient ist später mit seiner neuen Lebensgefährtin in die Ukraine ausgesiedelt. Einige Jahre später starb er dort auf tragische Weise: Er hatte sich mit der Flex in die Leiste geschnitten und verblutete...

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