Genspritze 1

Frau H.C., 86 Jahre, ehemalige Lehrerin, langjährige Patientin. Die Bilder von Bergamo, den Intensivpatienten mit Schläuchen in Bauchlage und die täglichen Horrorzahlen von Inzidenzen, Coronatoten und Hochrisikogruppen haben die alte, alleinlebende Dame an den Rand der Verzweiflung gebracht. Sie verlässt ihr Haus nicht mehr und auch ihre Katze muss drinbleiben. Man weiß ja nicht, ob sie nicht das Killervirus einschleppen könnte. Ihre Haushaltshilfe darf die Wohnung nur putzen, wenn sie sich bei geschlossener Wintergartentür in Sicherheit gebracht hat. Der Einkauf wird vor die Tür gestellt. Diskussionen mit ihr sind unmöglich, denn sie glaubt den Experten um Drosten und Wieler natürlich mehr als mir. Nach 3 Monaten allerdings muss sie ihre selbstgewählte Quarantäne zwangsläufig beenden, weil sie starke Schmerzen hat, nachdem sie gestürzt ist. Ich darf sie zu Hause besuchen, natürlich nach negativem Test und mit Maske. Den Malerkittel verweigere ich. Äußerst widerwillig lässt sie sich von mir untersuchen. Inzwischen wartet die ganze Welt auf die heilbringende „Impfung“. Sie selbstverständlich auch. Aber es gibt ein Problem. Sie wird auf keinen Fall das Haus verlassen, schon gar nicht in eines der Impfzentren, die bald wie Pilze aus dem Boden sprießen und ihren Betreibern neue große Autos bescheren. Also soll ich sie „impfen“. Ich weigere mich hartnäckig, auch mit Ausflüchten (als Privatarzt bekam ich anfangs eh keinen „Impfstoff“). Sie lässt aber nicht locker, unter Tränen appelliert sie an meine ärztliche Pflicht. Sogar Hippokrates muss herhalten. Bei Menschen in Panikstarre, v.a. bei gebildeten, gibt es keine Debatten. Irgendwann gebe ich auf, besorge mir die Spritze und impfe sie. Sie wird die Einzige bleiben. Bei mir bleiben Schuldgefühle. Denn sehr schnell verschlechtert sich ihr geistiger Zustand. Sicherlich war sie durch die lange Zeit der Einsamkeit und die täglichen Schreckensbilder (der Fernseher lief natürlich von morgens bis spätabends) vorbelastet, aber nach der Genspritze verschlechterte sich ihr Gedächtnis rapide. Auch ihr Starrsinn war kaum noch zu ertragen. Sie misstraute inzwischen Jedem und Allem, auch mir. Natürlich verlangte sie die 2. Spritze und ich ließ mich wider besseren Wissens erweichen. Ich hatte nur die Option, meiner Linie treu zu bleiben und ihr zu sagen, dafür müsse sie sich einen anderen Arzt suchen. Aber ich kannte sie schon so lange und sie hatte mir immer vertraut. Außerdem war es gar nicht so einfach, einen anderen Arzt zu bekommen, zumal sie ja auf Hausbesuchen bestand. Nach dieser 2. Injektion verlor sie komplett ihr Kurzzeitgedächtnis, wahrscheinlich als Folge eines Mini-Schlaganfalles. Sie konnte sich nicht mehr allein versorgen und kam in ein Seniorenheim. 4 Monate später starb sie plötzlich und unerwartet. Die Pflegerinnen fanden sie morgens tot in ihrem Bett.

Wie viele solcher Schicksale mag es inzwischen geben? Wie viele werden nicht erzählt? Abgehakt unter „vorerkrankt, alt, etc.“? Für mich gehören sie in die Rubrik „Dunkelziffer“.

nav
nach oben