Die Gute Fee

Sonntagmorgen, der 3. Advent. Es ist noch früh, stockfinster, ich bin grad aufgewacht. Da höre ich am spaltbreit geöffneten Fenster ein leises Zischen, dann ein Lichtschimmer und vor meinem Bett steht eine fremde Frau, immerhin ohne Maske.

„Ich bin die gute Fee, und weil bald Weihnachten ist, hast Du einen Wunsch frei!“

Ich reibe mir die Augen. Woher weiß sie, dass seit Corona viele, wenn nicht alle meine Wünsche nicht in Erfüllung gegangen sind? Ich überlege nicht lange.

„Okay, dann wünsche ich mir, dass an diesem Weihnachten unter jedem deutschen Tannenbaum bzw. (manche haben ja keinen) auf jedem Weihnachtsgabentisch bzw. (manche haben ja auch so etwas nicht) in jedem deutschen Haushalt folgende 2 Bücher liegen: zum einen ‚Der Untertan‘ von Heinrich Mann und zum anderen ‚1984‘ von George Orwell!“

Zufrieden mit mir, weil ich mir einbilde, zu dieser frühen Stunde an alles gedacht zu haben, blicke ich zu ihr auf.

Ihr Blick ist merkwürdig, mit einer Mischung aus ein klein wenig Belustigung und ganz viel Mitleid, als sie mir antwortet:

„Dein Wunsch sei Dir gewährt. Aber bist Du Dir sicher, dass Du an alles gedacht hast?“

Zweifel kommen in mir hoch.

„Was sollte ich denn vergessen haben?“

Ihre Antwort lässt mich im eben noch warmen Bett schaudern.

„Bist Du Dir sicher, dass sie auch gelesen werden?“

Mist, daran hatte ich Schlaumeier natürlich nicht gedacht. Sie dreht sich um und geht zum Fenster.

Ich starte noch einen letzten Verzweiflungsanlauf:

„Gibt es noch Verhandlungsspielraum?“

Sie dreht sich noch einmal um, zieht die Mundwinkel nach unten, zuckt kaum merklich mit den Achseln mitsamt anhängenden Flügeln, ein Zischen und mein Schlafzimmer ist dunkel und leer.

Was bleibt mir? Doch nur noch Hoffnung. Man sieht sich im Leben doch immer zweimal, heißt es.

Also werde ich bis nächstes Jahr Weihnachten mein Schlafzimmerfenster immer mindestens einen Spaltbreit offen lassen ...

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